Große Beschwerdekammer G1/22 und G2/22: EPA für die Beurteilung des Prioritätsanspruchs zuständig

16.10.2023

Und es ist eine widerlegbare Vermutung, dass ein Anmelder, der eine Priorität gemäß den Formerfordernissen des EPÜ in Anspruch nimmt, dazu berechtigt ist.

Die Technischen Beschwerdekammer wollte zu T 1513/17 und T 2719/19 wissen, ob das EPA für die Beurteilung der Berechtigung eines Beteiligten zur Inanspruchnahme einer Priorität zuständig ist. Es ging es um einen Fall, in dem Erfinder eine US-Patentanmeldung einreichen, die dann als Prioritätsanmeldung für eine spätere PCT-Anmeldung verwendet wird, in der die Erfinder nur als Anmelder für die USA benannt sind, während für den europäischen Patentschutz andere (juristische) Personen als die Erfinder genannt werden. In einer solchen Situation stellt sich die Frage, ob der Mitanmelder einer PCT-Anmeldung, der nicht mit den in der US-Prioritätsanmeldung genannten Erfindern identisch ist, sich in der europäischen Phase wirksam auf das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPÜ berufen kann.

In den beiden Fällen, die der Zurückverweisung zugrunde lagen, hatten die Einspruchsabteilung und die Prüfungsabteilung den Prioritätsanspruch für ungültig erklärt, weil nicht alle Erfinder, die in der US-Patentanmeldung als Anmelder genannt waren, den Anmeldern der jeweiligen europäischen Patentanmeldungen vor der Einreichung der PCT-Anmeldung das Prioritätsrecht übertragen hatten.

Nach Artikel 87 (1) EPÜ genießt „jede Person, die eine Patentanmeldung […] ordnungsgemäß eingereicht hat, oder ihr Rechtsnachfolger bei der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung für dieselbe Erfindung während einer Frist von zwölf Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht“.

Die Große Beschwerdekammer unterscheidet zwischen dem Recht, eine europäische Patentanmeldung einzureichen (d. h. dem Rechtstitel auf die Anmeldung und das daraus resultierende Patent), und dem Recht, den Prioritätstag für diese Anmeldung in Anspruch zu nehmen (d. h. dem „Prioritätsrecht“ gemäß Artikel 87 (1) EPÜ). Nach Artikel 60 (3) EPÜ war das EPA nicht zuständig, den Anspruch des Anmelders auf die Patentanmeldung zu beurteilen. Diese Bestimmung gelte jedoch nicht für das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPÜ, weder direkt noch analog. Somit sei das EPA für die Beurteilung des Prioritätsanspruchs des Anmelders zuständig.

Das Prioritätsrecht und seine Übertragung unterliege dem autonomen Recht des EPÜ, so die Große Beschwerdekammer. Der Prioritätsanspruch des Anmelders wird vermutet, wenn die formalen Erfordernisse für die Inanspruchnahme der Priorität erfüllt sind. Diese Vermutung ist gerechtfertigt, weil (i) alle Beteiligten in der Regel ein Interesse daran haben, dass eine Anmeldung in den Genuss eines Prioritätsrechts kommt, (ii) es keine Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten gibt und (iii) der Anmelder der Prioritätsanmeldung den Anmelder, der die Priorität beansprucht, unterstützen muss (z. B. durch Vorlage unveröffentlichter Dokumente). Die Vermutung ist widerlegbar und gilt in jedem Fall, in dem der Prioritätsanmelder nicht mit dem Nachanmelder identisch ist, und unabhängig davon, ob die Nachanmeldung eine PCT-Anmeldung ist.

Die Große Beschwerdekammer stellte ferner fest, dass die widerlegbare Vermutung auch in der in Vorlagefrage II beschriebenen Situation gilt. Für diesen Fall hat die Große Beschwerdekammer zusätzlich die Auslegung der gemeinsamen Einreichung einer PCT-Anmeldung als ausreichenden Beweis für eine konkludente Vereinbarung über die gemeinsame Nutzung des Prioritätsrechts gebilligt, sofern keine substanziellen Anhaltspunkte für das Gegenteil vorliegen.

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